Der Weg zum Kinderkurheim kam mir sehr lang vor, vielleicht, weil ich ziemlichen Hunger hatte. Ein paar Kinder hatten es gut, die durften auf einer Art Trecker mitfahren, aber in eine andere Richtung, zum „Haus Hamburg“, wie uns gesagt wurde. Endlich sind wir dann aber in einem großen Haus angekommen. Ich hatte eigentlich gehofft, dass es direkt etwas zu essen geben würde; aber nein, erstmal mussten wir alle auf die Toilette gehen, und danach kamen viele nervige Untersuchungen: Wir wurden gewogen und gemessen – das war insgesamt alles sehr eigenartig, und ich mochte es überhaupt nicht, dass ich mich vor dem Wiegen nackig ausziehen musste – die anderen Kinder waren ja schließlich auch da!
Danach gab es endlich Essen; aber dann mussten wir auch direkt schlafen gehen, obwohl wir doch gerade erst angekommen waren, und wir wollten uns ja auch erstmal alle richtig kennenlernen, so viele wie wir waren! Also haben wir viel gequatscht und ein bisschen rumgealbert, aber das hat der Schwester gar nicht gefallen, die hat direkt sehr laut mit uns geschimpft, und dann war Ruhe; und noch schlimmer, sie hat mir meine Puppe Susa weggenommen, die eigentlich immer bei mir schläft! Ich war zwar erst kurze Zeit da, aber ich hatte schnell gemerkt: Es ist alles ganz anders als zuhause.
Hintergrund: Die Ankunft im Kinderkurheim bildete den Auftakt für eine Reihe organisatorischer Arbeiten. In vielen Heimen unterzogen Ärzt*innen die Kinder einer Eingangsuntersuchung, in der Gewicht, Größe und andere Auffälligkeiten dokumentiert wurden. Vor der Abfahrt wurden die Untersuchungen wiederholt. Zeitgeschichtliche Dokumente belegen, dass der Kurerfolg zumeist an eine Gewichtszunahme geknüpft wurde. Viele Kinder schämten sich bei den Untersuchungen, die in Gegenwart der anderen Kinder durchgeführt wurden. Im Anschluss wurden die Kinder einer Gruppe in Erholungsheim zugeordnet, mit der sie einen Schlafsaal, die Zeiten der Kuranwendungen und den gesamten Zeitplan teilten. Oft erfolge die Zuordnung nach dem Alter. Geschwister, die gemeinsam angereist waren, wurden getrennt und sahen sich häufig bis zum Ende des Aufenthaltes nicht mehr. Das Gepäck der Kinder wurde kontrolliert und in einigen Heimen so verstaut, dass die Kinder nicht selbst an ihren Besitz konnten. In einigen Heimen besaß jedes Kind einen eigenen Schrank, in anderen gab es offene Gepäckfächer, zu denen nur zu bestimmten Zeiten der Zugang gewährt wurde. Das Mitbringen von Nahrungsmitteln war untersagt, wohingegen das Mitbringen von Stofftieren und Puppen erlaubt war. Nicht selten wurde ein Vergehen gegen die Hausordnung aber mit Entzug des geliebten Spielzeugs geahndet. Die Betreuung der Kinder übernahmen je nach Einrichtung Erzieherinnen, Ordensangehörige und unausgebildete Hilfskräfte. Die Kinder sollten die Betreuungskräfte häufig als „Tanten“ betiteln.