Ich weiß noch ganz genau, wie alles angefangen hat. Wir saßen zusammen am Esstisch, Mama, Papa, mein großer Bruder Klaus und ich – da hat mich Mama plötzlich gefragt, ob ich Lust hätte, eine Kinderkur zu machen. Ich wusste nicht so recht, was das ist, eine Kinderkur. Mama und Papa haben gesagt, da würde man mich aufpäppeln; ich wäre zwar eine Zeitlang weg von zuhause, aber dafür dürfte ich sogar mit dem Zug hinfahren! Ich hatte vorher schon oft Züge gesehen, wenn sie durch unser Viertel gefahren sind – aber selber einmal damit fahren, das klang ganz neu und aufregend! Klaus meinte außerdem, dass auch das Essen dort lecker ist. „Wie bei Mama“, hat er gesagt – er war vorher auch schon mal in einer Kinderkur, nicht da, wo ich hinsollte, aber so unterschiedlich war das ja bestimmt nicht.
Von da an war ich ganz gespannt, wann es endlich losgehen sollte. Mama fing an, meine Anziehsachen mit Namensschildern zu versehen und in einen großen Koffer zu packen. Ich war so stolz, was für ein Aufwand gemacht wurde, und das Alles für mich!
Irgendwann im Sommer war es dann endlich so weit: Mama und Klaus haben mich zum Bahnhof gebracht, und dann musste ich allein in den Zug steigen; wobei, so alleine war ich dann auch wieder nicht. Da war noch eine Gruppe anderer Kinder, die hatten so komische Pappschilder um den Hals, und daneben stand eine Betreuerin. Ein paar von denen sahen nicht so glücklich aus und guckten traurig aus dem Fenster. Ich jedenfalls fand die Fahrt sehr spannend, und als wir dann angekommen sind, sind wir alle zusammen zu Fuß vom Bahnhof mit der Betreuerin losmarschiert.
Hintergrund: An die 5000 Kinder pro Jahr wurden in den 1950er- und 1960er Jahren aus dem ganzen Bundesgebiet ohne ihre Eltern zu Erholungskuren nach Bad Sassendorf geschickt. Dort wurden sie in den Kindererholungsheimen unterschiedlicher Trägerorganisationen untergebracht. Krank waren nur die wenigsten der Kinder: Die meisten Kurkinder wurden aufgrund ihrer „schwächliche Konstitution“ zur Erholung geschickt. Sie waren kleiner oder dünner als die anderen und sollten während der Kur „aufgepäppelt“ werden. Aber auch Skrofulose, Lupus, rheumatische Erkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden als Grund für einen Kuraufenthalt aufgelistet. Die Indikationen verändern sich mit der Zeit. Die Koordination der Kuren fand häufig über die Wohlfahrts- und Gesundheitsämter statt, konnte aber auch über den Arbeitgeber der Eltern erfolgen. Ob ein Kind zu einer Kur berechtigt war, wurde bei Voruntersuchungen durch einen Arzt festgestellt. Nicht selten sollten durch die Aufenthalte der Kinder im Erholungsheim die Eltern, insbesondere die Mütter, entlastet werden. Die Heime stellten den Familien Packlisten zur Verfügung, in denen darauf hingewiesen wurde, dass alle Kleidungsstücke mit den Namen der Kinder versehen sein müssen. Versehen mit einem Pappschild um den Hals, wurden die Kinder meist mit wenigen Betreuungskräften in großen Gruppen über Sonderzüge mit der Bahn oder Bussen an den Kurort transportiert.