Mein Bruder hat gesagt das Essen im Kurheim würde genauso schmecken wie bei Mama, aber das fand ich gar nicht. Wir aßen alle zusammen in einem großen Speisesaal. Morgens gab es oft Haferschleim und Milchreis. Manchmal auch belegt Brote und Obst, das mochte ich besonders gern. Zum Mittagessen gab es manchmal Nudeln oder Eintopf oder Germknödel. Milchsuppe mag ich überhaupt nicht und die gab es leider oft. Mama zwang mich nie dazu Milchsuppe zu essen, aber die Schwestern sagten wir müssten alles aufessen. Ich gebe mir ganz viel Mühe und möchte alle stolz machen. Aber es gibt jeden Tag so viel zu essen und wir müssen alles aufessen und dürfen nicht trödeln.

Letzte Woche hat ein Junge am Nachbartisch seine Portion nicht geschafft und musste brechen. Da sind die Schwestern böse geworden. Der Junge musste alles aufessen, auch sein Erbrochenes. Ich saß beim Essen mit den Mädchen aus meinem Schlafsaal zusammen. Wir hatten alle Angst was passiert, wenn wir Reste auf dem Teller lassen. An einem Morgen habe ich versucht dem Mädchen neben mir zu helfen und habe eines ihrer Brote gegessen, weil sie nicht mehr konnte. Aber dann gab es mittags Milchsuppe und ich hatte keinen Hunger. Ich habe es nicht geschafft. Ich habe mich so angestrengt. Die Heimleiterin hat alles gesehen. Sie ist schrecklich wütend geworden...“

 

Hintergrund: Der Erfolg der Kuren wurde an heute schwer verständlichen Komponenten bemessen: Gewichtszunahme und gebräunte Haut. Ein Großteil der Kinder wurde trotz ihres Normalgewichtes zum Aufpäppeln in die Kur geschickt. Dokumente aus den Heimen belegen, dass eine Gewichtszunahme in den meisten Kuren erwartet wurde. Um dieses Ziel bei den Kindern zu erreichen, wurden bei den Mahlzeiten hochkalorische Gerichte in großen Mengen gereicht: Ob belegte Brötchen, Milchsuppe, Germknödel oder Linsensuppe mit Speck. Die Kinder mussten ihre Portion aufessen und häufig noch einen Nachschlag nehmen. Eine Ablehnung gegen einzelne Gerichte oder Sättigung wurden nicht geduldet. Zeitzeugen berichten von Zwangsernährung und davon, dass Kinder unter dem Zwang der Betreuungskräfte ihr Erbrochenes essen mussten. Wie der restliche Tagesablauf, waren auch die Mahlzeiten strikt getaktet und geprägt von einem andauernden Druck.